Renaissance-Musik


von Georg Leisse

 

Unser Musikgeschmack ist geprägt von Kompositionen des Barock, der Klassik und der Romantik. Diese Musik hören wir am Meisten, verstehen wir am Bes­ten, bereitet uns den größten Genuß. Wenn wir Musik anderer Epochen hören, bewundern wir sie zwar, sie fasziniert uns, aber sie bleibt uns merkwürdig fern. Zum Teil lehnen wir sie auch ab, gerade wenn es sich um zeitgenössische Musik handelt. Woran kann das liegen? Was ist so anders an der Musik der Renaissance oder des 20. Jahrhunderts?

 


 STRUKTUR CONTRA EMOTION

 

Eine der wichtigsten Umbrüche in der Musikgeschichte bildet die Zeit um 1600. Eine Gruppe Intellektueller beschäftigte sich in Florenz mit der Frage, wie die antike Rede, die in gesungener Form dargeboten wurde, wieder lebendig gemacht werden könnte. Man "erfand" die Monodie, den generalbaßbeglei-teten Sologesang, der die Hörgewohnheiten auf den Kopf stellte.

Die Musik nach 1600 versucht menschliche Empfindungen nachzuahmen und auszudrü-cken, allen voran Trauer und Freude. Aus dieser Dialektik, aus diesen Antagonisten entstehen ganze Opern, ganze Symphonien. Zwar sind auch schon vor 1600 in vielen weltlichen Madrigalen diese Gefühlswelten erhalten, sie sind damit die Vorboten eines neuen Zugangs zur Musik, aber die Dominanz der Kirche, die Jahrhunderte lang die Musik in Komposition und Ausübung beherrschte, behinderte diese Entwicklung beträchtlich.

 

Musik diente einem anderen Zweck. Sie sollte nicht in erster Linie die Menschen unter-halten, sondern die göttliche Ordnung abbil-den, sie sollte "Harmonia Mundi" sein, Harmonie der Welt. Es ging um Konstruk-tionsprinzipien, Strukturen, Anordnungen von Intervallen und Tönen, die einer höheren Ordnung folgten. Zahlenspiele waren unver-zichtbar. Alle Kombinationen mit den Zahlen drei oder vier wurden als formales Ausgangs-prinzip genutzt:

33 Wörter in einer Stimme, dazu 33 mal drei Töne, in einer anderen Stimme 33 mal vier Töne etc.. Komplexe Vorbereitungen waren nötig, bevor der erste Ton geschrieben wurde.

 

 

Wir müssen diese Musik also ganz anders hören. Es geht nicht um Dialektik, Gut gegen Böse, Trauer gegen Freude, keine Konfron-tationen dieser Gefühlszustände, keine dra-matische Verarbeitung der Themen, keine Klimax. Es geht um Erfahrbarkeit von Struk-tur. So wie wir eine gotische Kathedrale an-schauen, müssen wir die Musik der Renais­sance anhören. So wie sich zehn gotische Kathedralen gleichen, so gleichen sich zehn Renaissancemessen. Ohne Interesse an Struk-turen, werden wir weder die Kirchen noch die Kompositionen unterscheiden können.

 

Auch in der zeitgenössischen Musik stehen Strukturen im Vordergrund. Die Musik wird wieder entemotionalisiert. Bestes Beispiel ist das Prinzip der Zwölftonmusik. In ihrer reinen Form äußerst abstrakt, erst in ihrer Kombina-tion mit Prinzipien des 18. und 19. Jahrhun-derts erlebbar und akzeptiert, wie z. B. die Oper "Wozzeck" von Alban Berg.

 

Waren in der Renaissance die Kompositions-prinzipien einheitlich, so existiert in der zeit-genössischen Musik eine nicht übersehbare Vielfalt von individuellen Experimenten zur Abkehr von der Musik vor 1900, was es für den Zuhörer schwierig macht, einen Zugang zu den Werken zu finden. Gerade in der Vokalmusik wird dabei auch auf Techniken der Renaissance zurückgriffen.



DIE TONARTEN

 

Gab es früher insgesamt bis zu zwölf Tonar-ten (ihrem Namen nach am Bekanntesten sind dorisch, phrygisch und lydisch), so sind es heute nur noch zwei, nämlich Dur und Moll. Das mag irritierend sein, bezeichnen wir doch heute C-Dur, Es-Dur oder Fis-Dur als Tonarten. Streng genommen sind das aber nur Transpositionen, also parallele Verschiebun-gen, des gleichen Tonleiterprinzips.

 

Tonarten im "alten" Sinne basieren auf einer unterschiedlichen Abfolge von Halb- und Ganztönen. Davon übrig geblieben sind unsere beiden nun als Tongeschlechter benannten Tonleitern Dur und Moll (ehemals ionisch und aeolisch). Wer am Klavier nur auf den weißen Tasten spielt, kann schnell diese Tonarten erkunden: d bis d ist dorisch, e bis e ist phrygisch, f bis f ist lydisch etc..

 

 

 

Hörbar machen das ungewollt Kinder, die versuchen das Kinderlied "Alle meine Ent-chen" auf dem Klavier zu spielen. Sie spielen nur auf den weißen Tasten und je nach dem mit welcher Taste sie beginnen, hören wir das Kinderlied mal auf dorisch, mal auf lydisch und durch Zufall richtig auf ionisch, was unserem heutigen Dur entspricht.

 

Da wir den Zugang zum Unterscheiden dieser Tonarten verloren haben, erscheinen uns Renaissance-Kompositionen eher einförmig in ihrer harmonischen Entwicklung, so als würde in einem längeren Werk immer nur C-Dur vorkommen. Wir können weder Veränderun-gen der Tonart in einem Stück erkennen noch verschiedene Grundtonarten unterschiedli-cher Werke, außer es handelt sich eben um Dur (ionisch) oder Moll (äolisch).

 



TAKT, METRUM, RHYTHMUS

 

Wir sind gewohnt, dass die Taktart gleichzei-tig das Metrum und damit den Rhythmus der Musik bestimmt. Das war in der Renaissance-zeit anders. Der sogenann­te Taktus wurde erst benötigt, als man im 12. Jh. von der Einstim-migkeit zur Mehrstimmigkeit überging.

Jahrtausende lang wurde nur einstimmig musiziert. Haltetöne, sogenannte Borduntöne wie beim Dudelsack, oder parallel verlaufende Stimmen in Quinten oder Oktaven, sind keine Mehrstimmigkeit im eigentlichen Sinne. Das gleichzeitige Erklingen unterschiedlicher Stimmen musste zeitlich organisiert werden. Dafür war der Taktus da. Es gab zahlreiche Möglichkeiten der Umsetzung, zudem auch noch regionale Unterschiede.

 

Das Metrum, das für uns heute gleichbe-deutend mit der Taktart ist, man denke nur an "Eine kleine Nachtmusik" von Mozart oder den Walzer "An der schönen blauen Donau" von Johann Strauß, war früher variabel. Es ändert sich in einer Stimme ständig und ist nicht einmal klar zu definieren, denn es hängt von verschiedenen Faktoren ab.

 

 

 

Wenn wir das heute auch nur annä­hernd nachahmen wollten, müssten wir zumindest ständig Taktwechsel schreiben und ausser-dem in jeder Stimme andere. Hugo Distler hat das in vielen seiner Vokalwerke so um-gesetzt.

 

Wie wird das Metrum bestimmt? Wir sind es gewohnt, dass Wortbetonung, rhythmische Betonung (wir nehmen eine längere Note im Verhältnis zu einer kürzeren als Betonung wahr) und melodische Betonung (wir nehmen eine höhere Note im Verhältnis zu einer tieferen Note als Betonung wahr) aufeinander treffen. Das empfinden wir als stimmig. Abweichungen dürfen vorkommen, aber nicht zu häufig. Die Komponisten der Renaissance versuchten ein Zusammentreffen dieser drei Betonungsmöglichkeiten zu vermeiden. Das macht es für den Interpreten schwer, sich für ein Metrum zu entscheiden, aber auch für den heutigen Hörer, der gewohnt ist Taktart und Metrum gleich zu setzen. Textbetonungen, die nicht auch rhythmisch betont sind empfinden wir als falsch. Wir akzeptieren immerhin Textbetonungen, die nicht auf melodische Betonungen fallen. Aber nur in sehr begrenztem Maße.



MELODIE CONTRA CANTUS-FIRMUS

 

Ein letzter Aspekt ist unsere Gewohnheit, die Oberstimme als Melodiestimme zu hören. Letztlich das, was Anfang des 17. Jahrhun-derts neu "erfunden" wurde, die Monodie. Eine Stimme singt oder spielt, die anderen begleiten auf einem recht einfachen harmo-nischen Gerüst. So funktioniert letztlich so-gar jede Wagner-Oper. Dagegen gibt es in einer Renaissance-Komposition keine "Lead"-Stimme, keine Stimme begleitet, Es gibt auch keine geplante Harmonieabfolge. Die meiste Musik wird heutzutage von drei Hauptharmo-nien gebildet: Tonika, Subdominante und Dominante, bzw. 1., 4. und 5. Stufe. Die Musik des Rock'n Roll besteht z. B. fast nur aus diesen drei Harmonien.

 

In der Renaissance liegt der Cantus firmus, die Hauptsimme, eigentlich nie in der obers-ten Stimme. Meistens steckt sie mitten drin und ist für uns deshalb schwer zu iden-tifizieren. Sie ist auch nicht gleich zu setzen mit der Melodiestimme, sondern bildet nur das Gerüst, meist liturgisch festgelegt, auf dem die Komposition aufgebaut ist, wie in der Missa "da pacem" von Josquin de Prez. In der geschichtlichen Abfolge sind erst Ober-stimmen zum Cantus-firmus getreten. Später dann auch Unterstimmen.

 

 

 

Von fast allen Opern, von fast allen Sym-phonien gibt es Klavierauszüge. Alle Stimmen des Orchesters werden soweit reduziert, dass sie auf dem Klavier spielbar sind. Es stehen immer noch viele Töne in der Klavierstimme. Beim Begleiten von Chorproben oder Opernproben wird weiter vereinfacht. Es ist erstaunlich, wie wenig nötig ist, um die Musik darzustellen. Ein paar Harmonien, die Bassstimme andeuten, und die Sängerinnen und Sänger in der Melodiestimme unter-stützen.

Von einer Renaissance-Motette kann man keinen Klavierauszug erstellen. Man kann fast nichts reduzieren, ohne dass das ganze Stück zerbricht. Selbst eine barocke Fuge ist ein gutes Stück entfernt von der Gleichberech-tigung der Stimmen in einer Motette der Renaissancezeit.

 

So müssen wir versuchen uns mit offenen Ohren und offenem Herzen auf Renaissance-Musik und Neue Musik einzulassen, um sie aus dem Vergleich mit unseren Hörerwartungen zu befreien.